Hunger im Ruedertal

von Sina Jenny

Der Heimweber Familie Brunner ging es im Sommer 1854 finanziell schlecht. So schlecht, dass sich die siebenköpfige Familie von gesammelten Pilzen, Ringelblumen, Haferwurzeln und Brennnesseln ernähren musste. Meist mit Wasser und Salz zu einer einfachen Suppe verarbeitet. Verdienten sie etwas Geld, kauften sie damit Mehl und Schmalz. Brot hatten sie seit Wochen nicht mehr gegessen. 30 Franken bekam die im Bezirk Kulm lebende Familie als „ausserordentliche Unterstützung“ für den Kauf von Lebensmittel. So viel wie dazumal ein Pfarrer in rund fünf Tagen, und ein Volksschullehrer in einem Monat verdiente.

Die Familie Brunner war eine von vielen, die in den 1850er Jahren im Ruedertal als Heimweber arbeitete – insgesamt 53 Heimweberinnen und 126 Heimweber gab es. Von zu Hause aus, mit den eigenen Webstühlen ausgerüstet, stellten die Familien im Verbund Stoff und Garn für die Baumwoll- und Strohflechtfabriken im Kanton Aargau her. Die Kinder wurden in den offiziellen Statistiken meist nicht aufgeführt. Dabei leisteten die Kleinsten bereits ihren Teil und stellten in mühsamer Arbeit filigrane Schnürchen her.

Die Fabrikbesitzer bezahlten den Heimarbeiter:innen dafür regelrechte Hungerlöhne. Der Lohn reichte eigentlich nie für mehr als fünf Familienmitglieder. Das starke Überangebot an Arbeitskräften nutzten die Fabrikbesitzer schamlos aus. Die Gemeinden mussten von ihren Bürger:innen Armensteuer einfordern, während sich die Fabrikherren an der billigen Arbeitskraft bereicherte.

Die tiefen Löhne und Perioden mit wenig Aufträgen machte es Familien wie den Brunners fast unmöglich, ein Batzen für schlechte Zeiten auf die Seite zu legen. Den schwankenden Preisen der Grundnahrungsmittel, aufgrund schlechter Getreideernten, Kartoffelkrankheiten oder Kriegen, waren sie hilflos ausgeliefert. Zumindest besassen einige Familien ein "Pflanzplätz”, ein Stück gepachtetes Land auf dem nächstliegenden Baueracker, für den Anbau der nötigsten Nahrungsmittel. Die wenigsten Heimweberinnen waren aber – wie man lange annahm – nebenbei auch Bäuerinnen oder besassen Grund- oder Landbesitz. Viele Familien, wie die Brunner, blickten in unsicheren Zeiten unweigerlich dem Hunger entgegen, der nicht selten den Tod brachte.

Quelle: Maurer, Ursula: Armut und wirtschaftliche Not im Ruedertal um 1850, Baden 2019 (Beiträge zur Aargauer Geschichte 19).

Das letzte Strohdachhaus in der Gemeinde Schmiedrued , abgebrochen 1962. Aufnahme von 1955/1960 © Sammlung Roland Frei