Verweigerung
Hunger ist in der Geschichte der Normalzustand: Häufig mussten Menschen Zeiten mangelhafter Versorgung aushalten. Hier und jetzt gibt es Nahrung im Überfluss, dennoch verzichten manche freiwillig darauf. Damit lassen sie das Geistige über den Körper siegen.
Menschen verweigern Nahrung aus verschiedenen Gründen: Alle Religionen kennen das Fasten, um die Wahrnehmung zu schärfen und sich dem Göttlichen zu nähern. Hungerstreik ist das äusserste politische Druckmittel. Nahrungsverzicht kann manchmal bei Krankheiten heilen.
Doch wenn sich der Geist ganz vom Körper befreit, ist das Leben bedroht. Der Weg aus dieser Todeszone ist lang: Körper und Kopf müssen sich wieder an eine ausgeglichene Beziehung gewöhnen.
Essstörungen
Bei einer Essstörung ist die Beziehung zum Essen gestört. Die Wahrnehmung verschiebt sich, seelische Empfindungen stimmen nicht mit körperlichen Bedürfnissen überein. Die Ursachen für eine gestörte Beziehung zum Essen können Ängste oder mangelndes Selbstvertrauen sein. Persönlichkeitsmerkmale wie ein Hang zu Perfektionismus begünstigen Essstörungen. Auch schwierige Situationen in der Familie oder im Freundeskreis können Auslöser sein. Die sozialen Medien und die Werbung verbreiten Bilder von perfekten Körpern. Das beeinflusst die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Weshalb manche auf diese Einflüsse mit Essstörungen reagieren und andere nicht, ist letztlich nicht geklärt
Autophagie
Fasten fördert die Gesundheit, weil es autophag wirkt. Das bedeutet, dass sich Bestandteile im Körper selbst verzehren. Nach etwa vierzehn Stunden ohne Nahrung setzen Reinigungsvorgänge ein: Geschädigte Zellen und überschüssige Bestandteile bauen sich ab. Die Abwehr gegen Krankheitserreger wird stärker. Der japanische Forscher Yoshinori Ōsumi erhielt 2016 für die Erforschung der Autophagie den Nobelpreis. Er vermutet, dass diese Prozesse den Körper in Hungerzeiten schützen.
Das Hunger-Experiment von Minnesota
1944 führte der amerikanische Arzt Ancel Keys während elf Monaten ein Hunger-Experiment mit 36 Freiwilligen durch. Er wollte körperliche und seelische Auswirkungen von Hunger und Mangelernährung untersuchen. Denn dies erfuhren im Krieg Millionen von Menschen. Drei Monate lang erhielten die Teilnehmenden normale Kost. Die nächsten sechs Monate bekamen sie nur noch halb so viel, vorwiegend Kartoffeln, Wurzelgemüse und Brot, wie es damals in Europa üblich war. Die Männer verloren im Schnitt ein Viertel ihres Gewichts.
Darauf folgte eine dreimonatige Erholungszeit. Alle Teilnehmenden erlitten starke körperliche, seelische und geistige Einschränkungen. Sie wurden träg, froren ständig und waren reizbar. Wasser lagerte sich in Beinen und Füssen ein. Sie hatten keine Lust mehr auf soziale oder sexuelle Kontakte. Die meisten brauchten Jahre, um ihr einstiges Gewicht wieder zu erreichen und zu einem ausgeglichenen Umgang mit Essen zurückzufinden.
Schauhungern
Im Sommer 1880 nahm der amerikanische Arzt Henry Tanner während 40 Tagen keinerlei Nahrung zu sich. Mit diesem Selbstversuch wollte er beweisen, dass der Geist stärker ist als die körperlichen Bedürfnisse. Er begründete ein Schauhungern gemäss dem Grundsatz, dass mit Fleiss und Willen alles erreicht werden kann. Gegen Eintritt bewunderte das Publikum Hungerkünstler in Hotelzimmern oder im Freien. Manche liessen sich in Glaskästen sperren, um Betrugsvorwürfen zuvorzukommen. Diese Hungerzellen waren eingerichtet mit Stuhl, Tisch, Bett und Büchern sowie separater Toilette. Nach dem Ersten Weltkrieg blühte das Schauhungern wieder auf. Die Künstler hungerten immer länger, doch das Publikum verlor allmählich das Interesse. Franz Kafka ging 1924 in seiner Kurzgeschichte «Ein Hungerkünstler» auf dieses Spektakel ein.